14. Februar 2022

Wir müssen jetzt handeln!

Interview mit Andreas Meyer Primavesi

  1. Alle Welt spricht von Klimaschutz und CO2 – wie betrifft das Minergie?
    Gebäude sollen so wenig klimaschädliche Gase emittieren wie möglich. Das heisst in erster Linie, dass sie ohne fossile Energie, also ohne Öl- und Gasheizung, funktionieren – und hoch effizient sind, egal mit welcher Energie. Das ist bei Minergie schon lange Standard. Nun wollen wir zusammen mit unserem Netzwerk auch noch die klimaschädlichen Emissionen beim Bau und beim Rückbau eines Gebäudes minimieren.
  2. Minergie-Gebäude werden also «Netto-Null»?
    Das Netto-Null-Gebäude gibt es – noch – nicht. Aber mit der Neuerung, dass wir nun bei allen Standards ein Verfahren zur Bilanzierung der Treibhausgasemissionen (THGE) für Neubauten in den Minergie-Nachweis integrieren und 2023 einen Grenzwert einführen könnten, bewegen wir uns in Richtung Netto-Null.
  3. Ist «Netto Null» eine Utopie?
    Nein. Aber bisher fehlte im Minergie-Standard ein Element dazu. Je höher die Effizienz im Betrieb, desto relevanter werden die Emissionen, welche durch die Erstellung und den Rückbau von Gebäuden verursacht werden. Um die Vision «Netto-Null-Emissionen» im Gebäudebereich erfüllen zu können, sind also zusätzlich zur betrieblichen Effizienz auch die Emissionen in der Erstellung massiv zu reduzieren. Und dann gilt es, den Rest der Emissionen zu kompensieren, mit sogenannten negativen Emissionen.

    Die Erstellung eines Gebäudes ohne Verursachung von THGE ist utopisch, eine vollständige Dekarbonisierung aller Prozesse und Baustoffe ist nicht absehbar. Durch gezielte Massnahmen ist es aber bereits heute möglich, die Emissionen um bis zu einem Drittel zu reduzieren. Welche baulichen Massnahmen dabei besonders wirksam sind, kann man mit dem neu eingeführten Verfahren zur Bilanzierung der THGE im Minergie-Nachweis einfach abschätzen. Die hinterlegten Werte basieren auf den KBOB-Ökobilanzdaten, dem SIA MB 2032 und den Erfahrungswerten aus mehr als 1'500 Minergie-ECO-Bauten.  
  4. Was bedeutet dies für die langjährigen Minergie-Themen Komfort und Energieeffizienz?
    Energieeffizienz und Behaglichkeit im Betrieb sind und bleiben die Kernelemente der Minergie-Standards. Ohne grosse Anstrengungen in Sachen Energieeffizienz und Eigenstromproduktion droht in den Wintermonaten mittelfristig eine Verknappung von Strom. Spätestens wenn gemäss Energieperspektiven 2050+ 1.2 Millionen zusätzliche Wärmepumpen und 3.6 Millionen batteriebetriebene Personenwagen zu versorgen sind und die Produktion von PV-Strom nicht massiv ausgebaut wurde. Gleichzeitig wird das Klima wärmer, gerade in den dicht bebauten Innenstädten werden Gebäude immer öfter überhitzen. Minergie möchte Orientierung geben, wie man Komfort, Energieeffizienz und Klimaschutz weiterhin unter einen Hut bringt.
  5. Wie geht es nun konkret weiter?
    Die Einführung einer Bilanzierung von verbauten Treibhausgasemissionen ab 2022 ist ein Zwischenschritt. 2023 soll aufgrund der Erfahrungswerte – auch aus Minergie-ECO – ein Grenzwert eingeführt werden, der dann zwingend in allen Minergie-Bauten einzuhalten ist.

    Denn ich bin überzeugt: Wir müssen jetzt handeln! Wenn wir als Gesellschaft und Branche den dringend notwendigen Schritt in eine nahezu emissionsfreie Zukunft schaffen wollen, müssen wir jetzt Nägel mit Köpfen machen. Noch sind die ungenutzten Potenziale, die Bilanz zu verbessern, sowohl in der Erstellung als auch im Betrieb sehr gross. Noch ist der Wandel im Gebäudebereich ohne Einschränkungen des Komforts möglich: Für den Klimaschutz muss niemand frieren, schwitzen oder stickige Luft einatmen. Zudem sind die meisten Effizienzmassnahmen inzwischen bei steigenden Energie- und Materialkosten rentabel.

    Noch sind ein paar Herausforderungen zu meistern, wir arbeiten eng mit Bund, Kantonen und Verbänden zusammen. Mit der Vision, dass bald schon alle Minergie-Gebäude Netto-Null-Emissionen verursachen.

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